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Flucht vor Gewalt und Terror

Flucht vor Gewalt – mehr als ein erlittenes Trauma

Weltweit sind Millionen von Menschen auf der Flucht vor Gewalt und Terror. Welche Auswirkungen hat es auf einen Menschen, wenn dieser Gewalt oder Terror am eigenen Leib erfahren hat? Wenn sich diese Menschen auf eine – oft elende – Reise begeben müssen, um Sicherheit zu finden? Das fragte ZOA den Psychiater Pim Scholte.  

Psychiater PIM scholte:

Du verlierst alles, was deinem Leben einen Sinn gibt

Mehr als 100 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, darunter viele vor Gewalt und Terror. Ukrainer und Jemeniten, die vor dem Krieg fliehen, aber auch Familien, die aufgrund von Unterdrückung und Verfolgung ihre Heimat verlassen. Diese Entscheidung ist nicht leicht zu treffen, sagt Pim Scholte. Als Psychiater verfügt er über umfassende Erfahrung in der psychosozialen Betreuung von Flüchtlingen.

Menschen verlassen nur ungern Haus und Hof, sagt Scholte. Wenn es wirklich gefährlich wird, ist die Sicherheit der wichtigste Auslöser, alles zurückzulassen. Für viele Flüchtlinge beginnt die Reise oft unvorbereitet, wenn sie sich zur Flucht entschließen.

In Europa sieht Scholte besonders viele Flüchtlinge, die aus Afrika südlich der Sahara und dem Nahen Osten kommen. Es handelt sich um Menschen aus Ländern, die chronisch instabil sind oder in denen es alltägliche Gewalt gibt. Terroristische Organisationen sind in mehreren Ländern dieser Regionen aktiv.

Flucht vor Gewalt: Ein Foto von Pim Scholte

Was machen Gewalt und Terror mit diesen Menschen?

Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach, sagt Scholte. Zunächst einmal ist ein Trauma immer vorhanden, wenn ein Mensch persönliche Gewalt erlebt hat, erklärt er. Bei einem Trauma ist etwas passiert, das außerhalb des normalen Spektrums unserer Lebenserfahrungen liegt. Es ist etwas, das nicht zu dem passt, was ein Mensch bisher über das Leben verstehen konnte, auch weil es oft von starken Emotionen wie Angst, Schrecken, Ekel, Terror, Wut und Hilflosigkeit begleitet wird. Dies kann ein Syndrom wie eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auslösen.

Traumatisierte Menschen können nicht an eine Erinnerung zurückdenken, ohne emotional überwältigt zu werden, so Scholte. Außerdem können sie diese Erinnerungen nicht selbst kontrollieren, weil die traumatische Erinnerung auf vielfältige Weise ausgelöst werden kann, sagt er. „Die Betroffenen versuchen dann, diese Auslöser zu vermeiden, was zu Rückzugsverhalten, Entfremdung und Einsamkeit führen kann. Es kann auch zu einem völligen Mangel an Vertrauen in die Menschheit und an Vertrauen in sich selbst führen.

Widerstandskraft und Resilienz

Bei Menschen, die manchmal Monate bis Jahre umherwandern, um der Gewalt zu entkommen, scheint der Prozess der Traumatisierung in gewisser Weise verzögert zu sein. Sie haben eine unglaubliche Widerstandskraft und Resilienz, um das Trauma so lange nicht zu erleben, bis sie den Raum oder die Sicherheit dafür bekommen.

Flucht vor Gewalt: Zerstörte Häuser in der Ukraine

Verlust von sozialen Rollen

Auf der Flucht vor Gewalt und Terror geht es um mehr als nur um das erlittene Trauma. Scholte: Sie verlieren alles, was ihrem Leben einen Sinn gibt. Abgesehen von den Menschen, die sie lieben, und ihrem Zuhause, verlieren Flüchtlinge auch die soziale Rolle, die sie haben. Damit meine ich, die Bedeutung, welche die Menschen für ihre Gemeinschaft haben und die Bedeutung, die sie in ihrer Arbeit haben. Das sind Dinge, aus denen wir Selbstachtung schöpfen, durch die wir die Achtung anderer Menschen gewinnen und von ihnen anerkannt und gewürdigt werden.

So werden Flüchtlinge zu Unbekannten, sagt Scholte, von denen niemand weiß, was sie eigentlich zu bieten haben. Menschen, an die sich niemand mehr erinnern kann. Wer vor Gewalt oder Terror geflohen ist und manchmal dauerhaft in Flüchtlingslagern lebt, muss dies erst wieder aufbauen, so Scholte. Das ist eine enorme Aufgabe, nicht nur wegen all der sozialen Probleme, auf die Flüchtlinge am Zielort stoßen, sondern auch wegen der Folgen möglicher traumatischer Ereignisse.

Der tägliche Stress im Leben von Flüchtlingen ist oft ein weitaus größerer Faktor für eine schlechte psychische Verfassung als das erlebte Trauma, so Scholte. Stress kumuliert. In der Regel kommt es dann mit der Zeit zu Burnout, emotionaler Erschöpfung, Lethargie und manchmal zu Depressionen. Das müssen wir bei der Behandlung von Flüchtlingen, denen wir helfen möchten, berücksichtigen.

Gruppentherapien

In der Praxis können Gruppentherapien, wie sie von ZOA in mehreren Ländern angeboten werden, in dieser Hinsicht sehr hilfreich sein. Gegenseitige Gespräche in einer Gruppe können Unterstützung bieten, damit Flüchtlinge Dinge im Alltag aufgreifen können, die für ein sinnvolles Leben wichtig sind. Laut Scholte können dies kleine Dinge sein, die man beeinflussen kann. Was sind Ihre Kernwerte, wo liegen Ihre Stärken? Das sind wichtige Fragen.

Flucht vor Gewalt: Menschen bei der Gruppentherapie

Eine weitere wichtige Frage ist, ob Flüchtlinge nach traumatischen Ereignissen und täglichem Stress wieder ein Gefühl der Sicherheit erlangen können. Das ist möglich, sagt Scholte. „Allerdings nur, wenn Sie in ihrem Leben jemals Sicherheit erfahren haben. Die aktuellen Umstände müssen so sein, dass man diese physische und soziale Sicherheit erfahren kann, sagt er.

Biografie 

Pim Scholte ist Psychiater. Während seiner Laufbahn am Akademischen Medizinischen Zentrum in Amsterdam konzentrierte er sich unter anderem auf die Behandlung von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Opfern von Menschenhändlern. Derzeit ist er unter anderem Vorsitzender des Verwaltungsrats der Antares-Stiftung. Die Antares-Stiftung unterstützt Organisationen wie ZOA in psychosozialen Fragen. Sie helfen Organisationen auch, ihre Mitarbeiter auf funktionale und nachhaltige Weise zu unterstützen, um eine übermäßige psychosoziale Belastung zu vermeiden.

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Für uns bei ZOA kennt die Nächstenliebe keine Grenzen: Wir helfen Opfern von Naturkatastrophen und bewaffneten Konflikten auf der ganzen Welt. Das fängt bei der Soforthilfe an, aber wir bleiben auch dann noch, bis die Menschen wieder auf eigenen Beinen stehen.

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